Busspur: Das Halten in zweiter Reihe ist im urbanen Straßenverkehr – insbesondere in Großstädten wie Berlin – ein alltägliches, aber oft unterschätztes Verkehrsdelikt. Es gefährdet nicht nur die Verkehrssicherheit, sondern ist auch in vielen Fällen schlicht rechtswidrig, insbesondere wenn dies auf einem Bussonderfahrstreifen erfolgt. Kommt es beim Anfahren aus dieser Position zu einem Unfall, stellt sich regelmäßig die Frage: Wer haftet? Welche Sorgfaltspflichten gelten?
Mit Urteil vom 28. April 2025 (22 U 50/22) hat das Kammergericht Berlin hierzu eine für die Praxis wegweisende Entscheidung getroffen: Es bejaht eine volle Haftung des in zweiter Reihe stehenden und plötzlich anfahrenden Fahrers – und verneint ein Mitverschulden des querenden, fließenden Verkehrs.
Der Fall: Verkehrsunfall auf dem Kurfürstendamm
Im Zentrum des Verfahrens stand ein Verkehrsunfall auf dem Kurfürstendamm, einem der belebtesten Straßenabschnitte Berlins. Der Beklagte hatte dort mit seinem Fahrzeug in zweiter Reihe auf einem Bussonderfahrstreifen gehalten – ohne verkehrsbedingten Grund. Aus dem Fahrzeug wurde ein Schlüssel übergeben. Anschließend fuhr der Beklagte wieder an, wobei er mit dem Pkw des Klägers kollidierte, der ordnungsgemäß aus dem linken Fahrstreifen über die Busspur auf eine Rechtsabbiegerspur querte.
Während das Landgericht noch von einer Mithaftung des Klägers ausging, hob das Kammergericht dieses Urteil aufund entschied klar zugunsten des Klägers – mit umfangreicher Begründung.
Rechtliche Würdigung und Kernaussagen des Gerichts
1. Halten auf Bussonderfahrstreifen: Absolutes Verbot
Das Kammergericht stellt unmissverständlich fest:
„Das Halten auf einem Bussonderfahrstreifen ist grundsätzlich verboten.“
Gemäß Zeichen 245 der Straßenverkehrs-Ordnung dürfen Bussonderfahrstreifen nicht durch den Individualverkehr genutzt werden. Auch ein kurzes Halten – selbst mit eingeschaltetem Warnblinker – ist dort nicht zulässig, sofern es nicht durch berechtigte Ausnahmen gedeckt ist (z. B. Taxen an Haltestellen).
Die Verwaltungsvorschrift zur StVO betont ausdrücklich:
„Die Funktionsfähigkeit der Bussonderfahrstreifen hängt von ihrer völligen Freihaltung vom Individualverkehr ab.“
Das Parken oder Halten in zweiter Reihe auf der Busspur stellt daher einen klaren Verstoß gegen die StVO dar – und führt zu einer erheblichen Ausgangshaftung des Halters.
2. § 10 StVO analog: Gesteigerte Sorgfaltspflichten auch ohne Anfahren vom Fahrbahnrand
Zwar erfasst § 10 Satz 1 StVO dem Wortlaut nach nur das Anfahren vom Fahrbahnrand. Doch das Kammergericht überträgt die dort normierten Sorgfaltspflichten auf das Anfahren aus zweiter Reihe, weil es sich um eine vergleichbare Gefährdungslage handelt – teils mit erhöhter Unübersichtlichkeit für den fließenden Verkehr.
Daraus folgt:
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Rückschaupflicht vor dem Anfahren
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Blinkpflicht (mindestens 5 Sekunden vor Anfahren)
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Beachtung des Vorrangs des fließenden Verkehrs
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Anscheinsbeweis bei Kollision zulasten des Anfahrenden
„Derjenige, der aus zweiter Reihe anfährt, muss sich so verhalten, als würde er vom Fahrbahnrand aus in den fließenden Verkehr einfädeln.“
Diese Sichtweise findet sich auch in der Kommentarliteratur (z. B. Burmann/Heß/Jahnke/Burmann, § 10 StVO Rn. 12) und wird durch obergerichtliche Rechtsprechung gestützt.
3. Kein Vorrang für verbotswidrig haltende oder fahrende Verkehrsteilnehmer
Ein häufiger Irrtum: Wer auf der Busspur fährt oder hält, meint, ihm stünde Vorrang nach § 9 Abs. 3 Satz 2 StVO zu, wenn andere Fahrzeuge querende Bewegungen vornehmen. Doch das Kammergericht verneint dies konsequent:
„§ 9 Abs. 3 Satz 2 StVO privilegiert ausschließlich berechtigte Verkehrsteilnehmer auf Bussonderfahrstreifen – insbesondere Linienbusse.“
Für unberechtigte Nutzer – wie den Beklagten – besteht kein Vorrang. Der querende Kläger durfte den Bereich an der vorgesehenen Querung mit Zeichen 340 (Leitlinie) benutzen und hatte dem Beklagten weder Vorrang noch Rücksicht zu gewähren.
4. Keine Betriebsgefahr, kein Mitverschulden des Klägers
Der Kläger querte die Busspur an der durch Markierung freigegebenen Stelle. Eine Rücksichtspflicht auf den Beklagten bestand nicht, da dessen Fahrzeug dort rechtswidrig parkte.
Das Kammergericht betont:
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Keine Pflicht zur Gefahrenabwendung nach § 1 Abs. 2 StVO
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Keine Anwendung von § 7 Abs. 5 StVO auf den querenden Kläger
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Grobe Sorgfaltspflichtverletzung allein durch den Beklagten
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Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs tritt vollständig zurück
Damit verneint das Gericht eine Haftungsverteilung und spricht dem Kläger 100 % der Schadenssumme zu – inkl. Reparaturkosten, Wertminderung und pauschalen Auslagen.
Fazit: Wer rechtswidrig hält, haftet voll – besonders beim Anfahren
Das Urteil des Kammergerichts sendet ein deutliches Signal:
🚫 Das Halten in zweiter Reihe – vor allem auf Bussonderfahrstreifen – ist nicht nur ein Parkverstoß, sondern kann beim Anfahren gravierende Haftungsfolgen haben.
🚘 Wer aus dieser Position losfährt, unterliegt denselben (ggf. strengeren) Sorgfaltspflichten wie beim Anfahren vom Fahrbahnrand.
⚖️ Ein Mitverschulden des fließenden Verkehrs ist bei korrekt ausgeführtem Querungsmanöver regelmäßig ausgeschlossen.
Für Anwälte, Versicherer und Geschädigte bedeutet das: Die Haftungsfrage muss nicht mehr hälftig oder anteilig gelöst werden, nur weil der eine Teilnehmer „querte“. Entscheidend ist die Vorrangbeachtung und das Halteverhalten – insbesondere bei Missachtung klarer Halteverbote auf Busspuren.
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