Anscheinsbeweis

Der Auffahrunfall gehört in Deutschland zu den häufigsten Unfallkonstellationen. Die Gerichte haben für Auffahrunfälle in jahrzehntelanger Rechtsprechung einen Erfahrungssatz gebildet, der einen Hinweis darauf geben soll, wer in solchen Fällen haften muss- der sogenannte Anscheinsbeweis. Der Anscheinsbeweis wird generell im Zivilrecht als Beweisansatz herangezogen und spielt im Verkehrsrecht eine große Rolle. Der Anscheinsbeweis besagt, dass der erste Anschein der Unfallsituation zu Lasten des Auffahrenden wirkt und davon ausgegangen wird, dass er für die aus dem Unfall entstehenden Kosten zu vollen Teilen haftet. Der BGH begründete diese Ansicht damit, dass der Auffahrende entweder durch einen ungenügenden Sicherheitsabstand (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO), durch nicht angepasste Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 StVO) oder durch allgemeine Unaufmerksamkeit (§ 1 Abs. 2 StVO) den Unfall schuldhaft verursacht hat (BGH NJW-RR 1989, 670).

Natürlich gibt es auch Konstellationen, die zwar auf den ersten Blick ebenso den Anschein haben, als habe sich der Auffahrende verkehrswidrig verhalten. Tatsächlich sind aber Umstände hinzugetreten, die beispielsweise ein Mitverschulden oder Gesamtverschulden des Vorausfahrenden zur Folge hätten. Der Auffahrende kann also in solchen Fällen den Anscheinsbeweis erschüttern. Der Auffahrende muss dann darlegen und beweisen, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, vorliegt.

Ausnahmen vom Anscheinsbeweis nach einem Auffahrunfall

Für Konstellationen, in denen der Anscheinsbeweis erschüttert werden kann, gibt es verschiedene typische Beispiele. Zu beachten ist, dass die Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht gleichbedeutend damit ist, dass der andere Unfallbeteiligte nun vollumfänglich haften muss. Vielmehr hängt die konkrete Haftungsverteilung bzw. Mithaftung von weiteren Umständen wie der Geschwindigkeit des Auffahrenden ab.

Auffahrunfall Autobahn

Die Rechtsprechung geht davon aus, dass ein Verkehrsteilnehmer auf Autobahnen nicht damit zu rechnen braucht, dass ein anderes ihm vorausfahrendes Fahrzeug plötzlich steht oder die Geschwindigkeit ohne ersichtlichen Grund plötzlich stark verringert. Kommt es dann zu einem Auffahrunfall, kann der Anscheinsbeweis erschüttert sein. Dies gilt auch dann, wenn der Vorausfahrende vor der Kollision einen riskanten Fahrstreifenwechsel auf die Überholspur vollzieht, ohne dabei auf den rückwärtigen Verkehr zu achten (OLG Naumburg (Urteil vom 06.06.2008 – 10 U 72/07).

Auffahrunfall – starkes Abbremsen

Besonders innerorts kommt es häufig zu Situationen, in denen der Vorausfahrende plötzlich ohne einen erkennbaren verkehrsgemäßen Grund stark abbremst.

Beispiel: Ortsunkundiger bremst an grüner Ampel plötzlich ab, da er merkt, dass er sich auf der falschen Fahrspur befindet.

In solchen Fällen ist der Anscheinsbeweis unproblematisch widerlegt.

Auffahren auf unbeleuchtete Hindernisse bei Dunkelheit

Der Anscheinsbeweis wird ebenso erschüttert, wenn ein Kraftfahrer auf ein unbeleuchtetes Hindernis bei Dunkelheit auffährt.

Beispiel: Auf der Landstraße stellt ein Autofahrer sein Fahrzeug/seinen Anhänger unbeleuchtet auf der Fahrbahn ab, woraufhin ein anderer Verkehrsteilnehmer auf dieses auffährt.

Auch hier wird der Anscheinsbeweis erschüttert, wenn der Auffahrende mit einer den Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit gefahren ist (OLG Celle, 14 U 58/05). In dem konkreten Fall haftete der Halter des Anhängers sogar vollständig für den entstandenen Schaden.

Bremsen wegen eines Tieres auf der Fahrbahn

Kommt es zu einem Auffahrunfall, weil der Vorausfahrende aufgrund eines Tieres auf der Fahrbahn gebremst hat, muss differenziert werden. Da infolge eines Auffahrunfalls erhebliche Verletzungen bei den Verkehrsteilnehmern entstehen können, ist starkes Bremsen bei Kleintieren auf der Fahrbahn nicht zulässig, so dass dann der Anscheinsbeweis entkräftet wird. Anders liegt der Fall bei größerem Wildtier, da hier anders als bei Kleintieren die Kollision beispielsweise mit einem Wildschwein auch für die Fahrzeuginsassen gefährlich werden kann. In solchen Fällen ist ein Abbremsen gerechtfertigt, so dass der Anscheinsbeweis wohl nicht erschüttert wird.

Das ist ebenfalls dann der Fall, wenn bei Kleintieren abgebremst wird, aber aufgrund des genügenden Sicherheitsabstandes eine Gefahr für den nachfolgenden Verkehr ausgeschlossen war. Kommt es dennoch zur Kollision, muss vermutet werden, dass der Auffahrende mit überhöhter Geschwindigkeit oder zu geringer Aufmerksamkeit fuhr.

Auffahrunfall – Spurwechsel

Die Oberlandesgerichte sind sich einig, dass der Anscheinsbeweis auch dann widerlegt ist, wenn der Vorausfahrende wenige Augenblicke vor dem Unfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden gewechselt ist, da sich die Kollision beider Fahrzeuge dann in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel ereignet hat (KG Berlin, 12 U 205/09). Es muss dann angenommen werden, dass der Vorausfahrende sorgfaltswidrig in zu geringem Abstand den Fahrstreifenwechsel vollzogen hat und damit eine verkehrserhebliche Gefahr geschaffen hatte.

 

Letztendlich kann man feststellen, dass in der Regel keine pauschalisierenden Regeln festgelegt werden können. Es sind stets zusätzliche besondere Umstände des Einzelfalls zu erwägen, die die Haftungslage in eine andere Richtung lenken können.

 

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