Unfallflucht – bedeutender Schaden – Entzug der Fahrerlaubnis

Unfallflucht Verkehrsunfall vorschaden linksabbiegen

Wer nach einem Unfall weiterfährt, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, begeht eine Unfallflucht (§ 142 StGB). Besonders schwerwiegend ist dieser Vorwurf dann, wenn nicht nur ein kleiner Blechschaden, sondern ein sogenannter „bedeutender Schaden“ entstanden ist.

Warum? Weil in diesen Fällen nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB die Entziehung der Fahrerlaubnis im Regelfall angeordnet wird. Das bedeutet: Der Führerschein ist weg, eine Sperrfrist wird festgesetzt, und die Wiedererteilung dauert Monate.

Doch wann genau liegt ein „bedeutender Schaden“ vor? Die Rechtsprechung ist in Bewegung – und die Schwelle steigt.


Die gesetzliche Grundlage

  • § 69 Abs. 1 StGB: Entziehung, wenn der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist.

  • § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB: Regelfall bei Unfallflucht (§ 142 StGB), wenn der Täter weiß oder wissen kann, dass bei dem Unfall

    • ein Mensch getötet,

    • erheblich verletzt oder

    • an fremden Sachen ein bedeutender Schaden entstanden ist.

Die Höhe dieses „bedeutenden Schadens“ ist nicht im Gesetz festgelegt. Sie wird durch die Rechtsprechung bestimmt – und passt sich den wirtschaftlichen Entwicklungen an.


Entwicklung der Wertgrenze in der Rechtsprechung

1. Frühe OLG-Rechtsprechung: 1.300 €

Seit den frühen 2000er Jahren war es herrschende Meinung, dass ein bedeutender Schaden bereits bei 1.300 € vorliegt. Hintergrund: Reparaturkosten auf diesem Niveau galten damals als klar spürbare Belastung.

2. Anhebung auf 1.500–1.600 €

Mit steigenden Preisen für Ersatzteile und Reparaturen hoben viele Gerichte die Grenze später auf 1.500–1.600 € an. Begründung: Inflation und Kostenentwicklung machten die frühere Grenze überholt.

3. BayObLG 2019: 1.903,89 € netto reichen

BayObLG, Beschluss vom 17.12.2019 – 204 StRR 1940/19 (DAR 2020, 268)
In diesem Fall ging es um einen Parkunfall, bei dem Reparaturkosten von 1.903,89 € netto anfielen. Das BayObLG stellte klar:

  • Ein solcher Betrag stellt jedenfalls einen bedeutenden Schaden dar.

  • Ein Regelfall des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB lag vor → die Fahrerlaubnis wurde entzogen.

Das Gericht verzichtete bewusst darauf, eine feste neue Grenze zu ziehen, stellte aber klar, dass die 1.900 € im Ergebnis ausreichen.

4. LG Nürnberg-Fürth und LG Landshut: 2.500 €

Bereits seit Jahren sprechen sich LG Nürnberg-Fürth und LG Landshut für eine deutliche Anhebung auf 2.500 € netto aus. Argumente:

  • Reparaturkosten sind massiv gestiegen, insbesondere bei modernen Fahrzeugen mit komplexer Elektronik und verdeckten Schäden.

  • Es bedarf einer klaren und höheren Linie, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren.

5. LG Zwickau 2025: Bestätigung von 2.500 € netto

LG Zwickau, Urteil vom 24.04.2025 – 3 NBs 420 Js 8745/24
Die Strafkammer hat die Wertgrenze bei 2.500 € netto angesetzt und sich damit ausdrücklich der Linie des LG Nürnberg-Fürth angeschlossen.

Im entschiedenen Fall lag der Schaden darunter:

  • Entziehung der Fahrerlaubnis schied aus.

  • Stattdessen: Geldstrafe (50 Tagessätze à 40 €) und ein Fahrverbot von zwei Monaten (§ 44 StGB), das durch die Dauer des vorläufigen Entzugs bereits erledigt war.

Begründung:

  • Inflation,

  • allgemeine Einkommensentwicklung,

  • steigende Reparaturkosten.

Die Kammer betonte, dass die früheren Schwellen von 1.500–1.600 € nicht mehr zeitgemäß seien.


Fazit der Rechtsprechung: Uneinheitlich, aber mit steigender Tendenz

  • Früher: 1.300 €

  • später: 1.500–1.600 €

  • BayObLG: 1.900 € reichen

  • LG Nürnberg-Fürth, LG Landshut, LG Zwickau: 2.500 € netto

Die Linie ist eindeutig: Die Grenze steigt. Doch solange der Bundesgerichtshof nicht entscheidet, bleibt es bei einer zersplitterten Rechtsprechung. Für Betroffene hängt viel davon ab, vor welchem Gericht sie landen.


Praxisfolgen für Betroffene

  1. Grauzone zwischen 1.800 und 2.500 €: Hier bestehen realistische Chancen, einen Fahrerlaubnisentzug zu vermeiden – sei es durch Infragestellung der Reparaturkosten oder durch Betonung der subjektiven Erkennbarkeit.

  2. Subjektiver Maßstab entscheidend: § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB verlangt, dass der Täter weiß oder wissen kann, dass ein bedeutender Schaden entstanden ist. Nicht immer lässt sich das am Unfallort erkennen.

  3. Alternative Fahrverbot: Fällt der Regelfall weg, kann das Gericht statt der Entziehung ein Fahrverbot nach § 44 StGB verhängen. Das ist in aller Regel die mildere Sanktion.

  4. Regionale Unterschiede: Während in Bayern schon bei unter 2.000 € der Führerschein gefährdet ist, wird in Sachsen oder Franken erst ab 2.500 € von einem Regelfall ausgegangen.


Zusammenfassung

Die Frage nach dem „bedeutenden Schaden“ ist weit mehr als eine juristische Feinheit: Sie entscheidet über den Führerscheinverlust. Die Entwicklung zeigt klar, dass die Grenze mit der wirtschaftlichen Realität Schritt hält – sie steigt. Doch einheitlich ist die Linie nicht, was Verteidigungsspielräume eröffnet.

Wer mit einem Schaden in der kritischen Spanne zwischen 1.800 und 2.500 € konfrontiert ist, sollte die Höhe der Reparaturkosten, die Berechnungsweise (netto/brutto) und die subjektive Erkennbarkeit durch den Fahrer genau prüfen lassen.


Beratung im Verkehrsrecht

Unsere Kanzlei berät Sie umfassend in Fällen von Unfallflucht, Fahrerlaubnisentzug und Fahrverbot. Gerade in Grenzfällen kann eine sorgfältige Verteidigung den Unterschied machen – zwischen einem zeitweisen Fahrverbot und dem vollständigen Verlust der Fahrerlaubnis.

Auffahrunfall: Wann „Wer auffährt, hat Schuld“ nicht gilt

Auffahrunfall Anscheinsbeweis

OLG München: Grenzen des Anscheinsbeweises beim Auffahrunfall – Wann „Wer auffährt, hat Schuld“ nicht gilt

Der Auffahrunfall  gehört zu den Klassikern im Verkehrsrecht. Fast jeder kennt den Satz: „Wer auffährt, hat Schuld.“
Doch diese Faustregel hat Grenzen. Das Oberlandesgericht München (Urteil vom 09.02.2022 – 10 U 1962/21, NJW-RR 2022, 893) zeigt, dass der Anscheinsbeweis nicht automatisch greift – vor allem dann nicht, wenn vor dem Unfall ein Spurwechsel feststeht, aber die genaue Ursache unklar bleibt.


Was bedeutet Anscheinsbeweis im Verkehrsrecht?

Der Anscheinsbeweis erlaubt es dem Gericht, aus einem typischen Unfallablauf auf ein typisches Fehlverhalten zu schließen – ohne dass jede Einzelheit bewiesen werden muss.
Beim Auffahrunfall lautet der Erfahrungssatz oft:

  • Der Auffahrende hat den Sicherheitsabstand (§ 4 Abs. 1 StVO) nicht eingehalten,

  • war unaufmerksam (§ 1 StVO) oder

  • fuhr zu schnell (§ 3 Abs. 1 StVO).

Aber: Dieser Schluss ist nur erlaubt, wenn das gesamte Unfallgeschehen typisch ist. Kommen besondere Umstände ins Spiel, kann der Anscheinsbeweis entfallen.


Der entscheidende Satz aus dem OLG-Urteil

Das OLG München formuliert in Rn. 18 unmissverständlich:

„Demnach wird einem Auffahrunfall die Typizität regelmäßig zu versagen sein, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahren ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 V StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch die Möglichkeit, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist.“

Mit anderen Worten:
Selbst wenn der Spurwechsel bewiesen ist, führt das nicht automatisch zu einem Schuldvorwurf gegen den Auffahrenden, wenn offen bleibt, ob der Spurwechsel verkehrswidrig war oder der Auffahrende einfach zu spät reagierte.


Der Fall: Auffahrunfall Motorradfahrer gegen Pkw auf der A9

Ein Motorradfahrer fuhr auf der linken Spur der A9 auf das Heck eines Pkw auf. Strittig war, ob der Pkw kurz vor dem Unfall von der mittleren auf die linke Spur gewechselt war.
Das Landgericht hatte zunächst eine 50:50-Haftungsverteilung angenommen.
Das OLG München sah das anders: Der Pkw-Fahrer konnte glaubhaft darlegen, dass er bereits längere Zeit spurgleich vorausfuhr. Der Motorradfahrer konnte den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern – weder durch Zeugen noch durch andere Beweise.
Ergebnis: Alleinhaftung des Motorradfahrers.


Bedeutung für die Praxis

Das Urteil macht deutlich:

  • Für Auffahrende: Wer den Anscheinsbeweis kippen will, braucht klare und belastbare Beweise – bloße Vermutungen reichen nicht.

  • Für Vorausfahrende: Gelingt der Nachweis, dass Sie bereits länger spurgleich fuhren, kann Ihre eigene Haftung vollständig entfallen.

  • Für beide Seiten: Widersprüchliche oder unklare Zeugenaussagen helfen nicht – entscheidend ist eine stimmige, belegbare Darstellung des Unfallhergangs.


Praxistipps vom Verkehrsrechtsexperten

📌 Dashcams einsetzen – sie liefern im Zweifel den entscheidenden Beweis.
📌 Zeugen frühzeitig sichern – Gedächtnislücken entstehen schneller als man denkt.
📌 Fotos, Skizzen und Unfallberichte sorgfältig sammeln.

Gerade bei Autobahnunfällen mit Spurwechseln entscheiden oft Sekunden – und nur eine saubere Beweislage kann den Ausschlag geben.


Fazit: Der Satz „Wer auffährt, hat immer Schuld“ stimmt so nicht. Das OLG München zeigt: Wenn feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel stattgefunden hat, aber unklar bleibt, ob dieser oder eine verspätete Reaktion die Ursache war, darf der Anscheinsbeweis nicht angewendet werden. Wer seine Position mit klaren Beweismitteln stützt, hat vor Gericht die besseren Chancen.

Ihr Ansprechpartner für Verkehrsrecht

Sie sind in einen ähnlichen Fall verwickelt oder möchten wissen, wie Ihre rechtlichen Chancen stehen? Unsere Kanzlei berät und vertritt Mandanten deutschlandweit in allen Fragen des Verkehrsrechts – fundiert, erfahren und lösungsorientiert.

📞 Kanzlei Prof. Dr. Streich & Partner
📍 Eichendorffstraße 14 – 10115 Berlin
📧 verkehrsrecht@streich-partner.de
🌐 www.streich-partner.de

TEL 030 226 35 7113

Verteidigung bei illegalem Straßenrennen: Anforderungen an den Nachweis von bedingtem Vorsatz

Straßenrennen

Bei schweren Unfällen bei einem illegalem Straßenrennen steht oft die Frage im Mittelpunkt, ob ein bedingter Verletzungs-, Tötungs- oder Gefährdungsvorsatz des Fahrers vorlag. Zwei aktuelle Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) aus den Jahren 2024 und 2025 bringen wichtige Klarstellungen für die Anforderungen an die Beweiswürdigung.

Gerade bei der Verteidigung in Verkehrsstrafverfahren sind diese Grundsätze von großer Bedeutung. Wir fassen die Entscheidungen übersichtlich zusammen.


Bedingter Vorsatz im Verkehrsstrafrecht: Was bedeutet das?

Bedingter Vorsatz liegt vor, wenn der Täter den Erfolg seiner Handlung – etwa eine Körperverletzung oder den Tod eines Menschen – als mögliche Folge seines Verhaltens erkennt (Wissenselement) und ihn entweder billigend in Kauf nimmt oder sich mit ihm abfindet (Willenselement).

Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter ernsthaft darauf vertraut, dass der schädliche Erfolg nicht eintreten wird.

Im Straßenverkehr, insbesondere bei illegalen Rennen, ist die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit oft schwierig – und entscheidend für das Strafmaß.


1. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2024 – Anforderungen an den Nachweis des Vorsatzes bei illegalem Straßenrennen mit Todesfolge

In dem Verfahren vor dem Landgericht Landau in der Pfalz hatte ein junger Fahrer sein Fahrzeug bei Starkregen mit mindestens 179 km/h auf nasser Fahrbahn beschleunigt und war in einer Kurve wegen Aquaplanings verunglückt. Zwei seiner Mitfahrer starben.

Das Landgericht hatte bedingten Körperverletzungs- und Gefährdungsvorsatz angenommen. Der BGH hob die Verurteilung jedoch teilweise auf:

  • Das Landgericht habe nicht tragfähig festgestellt, dass der Fahrer sich der konkreten Gefahr bewusst war.

  • Es fehle eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Fahrer sich selbst erheblich gefährdete– was gegen einen Vorsatz sprechen könnte.

  • Die bloße Bezugnahme auf die objektive Gefährlichkeit der Fahrweise reiche nicht: Eine individuelle Vorsatzprüfung unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters sei notwendig.

Ergebnis: Die Beweiswürdigung genügte den hohen Anforderungen des BGH nicht. Der Fall wurde zur neuen Verhandlung an eine andere Jugendkammer zurückverwiesen.


2. BGH, Urteil im „Moeser-Raser-Fall“ – Bedingter Tötungs- und Gefährdungsvorsatz bei illegalem Straßenrennen

In einem weiteren, besonders aufsehenerregenden Fall („Moeser-Raser-Fall“) hatte der Angeklagte bei einem innerstädtischen Straßenrennen mit 167 km/h auf der Gegenfahrbahn eine Vollbremsung eingeleitet, als ein Fahrzeug aus einer Seitenstraße kam – dennoch kam es zu einer tödlichen Kollision.

Das Landgericht hatte einen bedingten Tötungsvorsatz bei dem Straßenrennen verneint, aber bedingten Gefährdungsvorsatz bejaht (§ 315d Abs. 2 StGB).

Der BGH beanstandete dies:

  • Die Ausführungen des Landgerichts stünden in einem unaufgelösten Widerspruch: Einerseits sei der Angeklagte sich der tödlichen Gefahr bewusst gewesen, andererseits habe er darauf vertraut, es werde schon nichts passieren.

  • Das Willenselement des Vorsatzes – die Billigung des Erfolges – sei unzureichend geprüft worden.

  • Auch die Annahme eines bedingten Gefährdungsvorsatzes sei nicht tragfähig, weil nicht klar festgestellt worden sei, welche konkreten Beinaheunfallszenarien sich der Angeklagte vorgestellt habe.

Ergebnis: Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wurde das Urteil aufgehoben. Das neue Tatgericht muss präzisere Feststellungen treffen.


Zusammenfassung: Strenge Anforderungen an die Feststellung bedingten Vorsatzes bei illegalem Straßenrennen

Die aktuelle BGH-Rechtsprechung macht deutlich:

  • Objektive Gefährlichkeit alleine reicht nicht aus. Es muss ermittelt werden, ob der Fahrer subjektiv die Gefährlichkeit erkannt und billigend in Kauf genommen hat.

  • Die Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ist eine Frage der konkreten Tatsituation und der inneren Einstellung des Fahrers.

  • Eigengefährdung des Täters spricht grundsätzlich gegen einen Vorsatz.

  • Widersprüchliche Beweiswürdigung führt zur Aufhebung von Urteilen.

Besonders bei illegalen Straßenrennen, aber auch bei extremen Verkehrsdelikten ohne explizite Abrede, ist die genaue Prüfung des subjektiven Tatbestandes entscheidend.


Unsere Kanzlei – Ihre Experten für Verkehrsstrafrecht

Unsere Kanzlei ist auf anspruchsvolle Fälle im Verkehrsstrafrecht spezialisiert. Wir beraten und verteidigen Sie umfassend in Verfahren wegen:

  • Verbotenes Straßenrennen (§ 315d StGB)

  • Gefährdung des Straßenverkehrs

  • Fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung

  • Verdacht auf bedingten Tötungs- oder Verletzungsvorsatz

Mit fundierter Kenntnis der aktuellen Rechtsprechung und langjähriger Prozesserfahrung setzen wir uns kompetent für Ihre Rechte ein.

Sprechen Sie uns gerne an – wir beraten Sie individuell und engagiert!

Anscheinsbeweis bei „berührungslosen Unfällen“

Auffahrunfall Anscheinsbeweis

Erweiterung des Anscheinsbeweis es auf „berührungslose Unfälle“

Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 3. Dezember 2024 stellt eine bemerkenswerte Erweiterung der bisherigen Rechtsprechung dar, indem es den Anscheinsbeweis auch auf „berührungslose Unfälle“ ausweitet. Traditionell wird der Anscheinsbeweis in Verkehrsunfällen in Fällen verwendet, bei denen ein Fahrzeug auffährt und typischerweise davon auszugehen ist, dass der Auffahrende entweder den Abstand nicht eingehalten oder unaufmerksam war. Doch was passiert, wenn ein Unfall geschieht, ohne dass es zu einer Kollision zwischen den Fahrzeugen kommt, jedoch ein Fahrfehler oder ein plötzliches Bremsmanöver die Ursache des Unfalls war?

Das Urteil verdeutlicht, dass auch hier der Anscheinsbeweis greifen kann. Im vorliegenden Fall führte der Kläger ein starkes Abbremsen durch, nachdem der vorausfahrende Pkw stark abbremste, um einer entgegenkommenden Fahrzeugführerin auszuweichen. Der Kläger stürzte, weil er mit seinem Motorrad ins Rutschen geriet, ohne dass eine Kollision mit dem vorausfahrenden Fahrzeug stattfand. Obwohl es in diesem Fall nicht zu einem Aufprall kam, ist die Art und Weise, wie der Kläger auf das Verhalten des vorausfahrenden Fahrzeugs reagierte, entscheidend für die Haftung und führt zur Anwendung des Anscheinsbeweises.

Typische Fälle, in denen der Anscheinsbeweis greift

Typischerweise wird der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen angewendet, bei denen der Auffahrende für den Unfall verantwortlich gemacht wird. Dabei stellt sich die Frage, ob der Fahrer den notwendigen Sicherheitsabstand eingehalten hat, ob er unaufmerksam war oder mit unangepasster Geschwindigkeit fuhr. Diese Elemente sind in der Verkehrspraxis häufig und führen dazu, dass der erste Anschein der Schuld beim Auffahrenden liegt.

Doch was passiert bei „berührungslosen Unfällen“? Die Antwort darauf gibt der BGH mit diesem Urteil: Der Anscheinsbeweis kann auch hier angewendet werden, wenn es einen typischen Unfallverlauf gibt. In diesem Fall wird angenommen, dass das Fahrverhalten des vorausfahrenden Fahrzeugs die Reaktion des nachfolgenden Fahrzeugs (des Klägers) beeinflusste, auch wenn es zu keiner direkten Kollision kam. Der Kläger bremste, und das Motorrad geriet ins Rutschen – ein klassisches Beispiel für eine „reaktive Reaktion“ auf das Verhalten eines anderen Fahrzeugs.

Anscheinsbeweis – mehr als nur eine Theorie

Der Anscheinsbeweis ist keine theoretische Hypothese, sondern ein praktisches Instrument zur Feststellung der Haftung. Er basiert auf der Erfahrung und der Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Ereignisse in der Regel bestimmte Ursachen nach sich ziehen. In Verkehrsunfällen führt dieser Beweis in vielen Fällen dazu, dass der hintere Fahrzeugführer für den Unfall verantwortlich gemacht wird, wenn er in typischer Weise unaufmerksam oder zu schnell unterwegs war. Durch das Urteil des BGH wird nun auch klar, dass dieser Beweis auf „berührungslose Unfälle“ ausgeweitet wird, in denen keine Kollision stattfindet, aber dennoch ein Fehler im Fahrverhalten des Hintermanns zu einem Unfall führt.

Das bedeutet für die Praxis, dass Anwälte und Versicherer bei der Beurteilung von Unfallursachen auch dann von einem Anscheinsbeweis ausgehen können, wenn die Fahrzeuge nicht miteinander kollidiert sind. Wenn der Unfall durch das Fahrverhalten des Vorausfahrenden (zum Beispiel durch plötzliches Abbremsen) ausgelöst wurde und der Hintermann eine untypische oder unangemessene Reaktion darauf zeigte (zum Beispiel durch eine Vollbremsung und den darauf folgenden Sturz), ist der Anscheinsbeweis ein wertvolles Mittel zur Klärung der Haftungsfrage.

Betriebsgefahr – Ein weiterer Schlüsselbegriff im Urteil

Das Urteil des BGH befasst sich auch intensiv mit der sogenannten Betriebsgefahr, die einem Fahrzeug bei einem Unfall zugeordnet wird. Diese Betriebsgefahr bezieht sich auf das Risiko, das durch den Betrieb eines Fahrzeugs entsteht, und welches auch dann haftbar gemacht werden kann, wenn der Unfall ohne direkte Kollision geschieht. Der BGH stellt klar, dass ein Schaden bereits dann als „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden gilt, wenn sich die Gefahren des Kfz im Unfallgeschehen ausgewirkt haben.

In diesem Fall war die Betriebsgefahr des Pkw, der vor dem Kläger fuhr, maßgeblich, da dessen plötzliches Abbremsen (aufgrund des entgegenkommenden Fahrzeugs) den Kläger zu einer Bremsung veranlasste, die letztlich zum Sturz führte. Auch wenn es zu keinem direkten Kontakt mit dem Fahrzeug des Vorausfahrenden kam, führte dessen Fahrweise dennoch dazu, dass der Kläger einen Fahrfehler beging, der zum Unfall führte. Daher kann die Betriebsgefahr des vorausfahrenden Fahrzeugs auch in einem solchen Fall zugerechnet werden.

Bedeutung für die Schadensregulierung und Haftungsquote

Das Urteil zeigt, dass nicht nur direkte Kollisionen zur Haftung führen können, sondern auch „berührungslose“ Unfälle. Für die Schadensregulierung bedeutet das, dass bei Unfällen, bei denen der Geschädigte aufgrund der Fahrweise eines anderen Fahrzeugs stürzt, auch die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Vorausfahrenden zur Haftung herangezogen werden kann.

Die Haftungsquote muss dabei im Einzelfall abgewogen werden. So stellt der BGH klar, dass der Kläger hier selbst einen Fehler begangen hat, indem er auf das starke Abbremsen des Vorausfahrenden mit einer Vollbremsung reagierte, was letztlich zu seinem Sturz führte. Dennoch war die Betriebsgefahr des vorausfahrenden Fahrzeugs nicht zu vernachlässigen. Das Berufungsgericht hatte eine Haftungsquote von 40 % zugunsten des Klägers festgelegt, was durch das Urteil des BGH bestätigt wurde, jedoch auch zu einer weiteren Prüfung der genauen Haftungssituation führte.

Fazit: Ein wegweisendes Urteil für die Praxis

Das Urteil des BGH vom 3. Dezember 2024 erweitert den Anscheinsbeweis auf Fälle von berührungslosen Unfällen und zeigt die Bedeutung der Betriebsgefahr im Verkehrsunfallrecht. Es verdeutlicht, dass bei Verkehrsunfällen nicht nur die direkte Kollision eine Rolle spielt, sondern auch die Auswirkungen des Fahrverhaltens eines anderen Fahrzeugs auf den Unfallhergang. Dieses Urteil ist ein wichtiger Schritt hin zu einer gerechteren und umfassenderen Haftungsbeurteilung bei Verkehrsunfällen, insbesondere bei den immer häufiger werdenden Fällen, in denen Fahrzeuge ohne direkten Kontakt miteinander zu Unfällen führen.

Für Anwälte, Versicherer und Verkehrsteilnehmer ist dieses Urteil von entscheidender Bedeutung, da es eine klare Linie für die Haftungsbewertung bei berührungslosen Unfällen aufzeigt und die Praxis im Umgang mit der Betriebsgefahr und dem Anscheinsbeweis entscheidend beeinflussen wird. Es ist zu erwarten, dass dieses Urteil zu einer Vielzahl von Folgeentscheidungen führen wird, die die Haftungsfrage bei Unfällen ohne direkte Kollision weiter präzisieren.

Ihr Ansprechpartner für Verkehrsrecht in Berlin – Rechtsanwalt Thomas Brunow

Thomas Brunow AnscheinsbeweisRechtsanwalt Thomas Brunow ist Ihr erfahrener Rechtsanwalt für Verkehrsrecht in Berlin Mitte. Als Spezialist auf diesem Gebiet vertritt er Mandanten ausschließlich in verkehrsrechtlichen Angelegenheiten – von der Schadenregulierung über Bußgeldverfahren bis hin zur Verteidigung in Verkehrsstrafsachen.

Dank seiner langjährigen Erfahrung und seiner Tätigkeit als Vertrauensanwalt des Volkswagen- und Audi-Händlerverbandesgenießt er großes Vertrauen in der Automobilbranche. Zudem ist er aktives Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht.

Leistungen von Rechtsanwalt Thomas Brunow:

Schadenregulierung nach Verkehrsunfällen – Durchsetzung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen.
Verteidigung in Verkehrsstrafsachen – Spezialisierung auf Trunkenheitsfahrten, Fahrerflucht, Nötigung und Körperverletzung im Straßenverkehr.
Verteidigung in Bußgeldverfahren – Umfassende Expertise bei Geschwindigkeitsverstößen, Rotlichtvergehen und Fahrtenbuchauflagen.

Mit Fachwissen, Erfahrung und Durchsetzungsstärke sorgt Rechtsanwalt Thomas Brunow für eine effektive Vertretung im Verkehrsrecht.

📍 Kanzlei Prof. Dr. Streich & Partner
📍 Eichendorffstraße 14, 10115 Berlin
📞 Telefon: 030 226357113

Parkplatzunfall und „rechts vor links“

Parkplatzunfall

Parkplatzunfall und „rechts vor links“: Aktuelle Rechtsprechung von OLG Frankfurt und BGH

Der Parkplatzunfall: Wenn es auf Parkplätzen zu Unfällen kommt, steht oft die Frage im Raum, ob die allgemeine Vorfahrtsregel „rechts vor links“ (§ 8 Abs. 1 StVO) gilt. Gerade weil Parkplätze in der Regel dem Such- und Rangierverkehr dienen, sind die Gerichte hier eher vorsichtig. Zwei aktuelle Entscheidungen – eine des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main vom 22. Juni 2022 (Az. 17 U 21/22) und eine des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. November 2022 (Az. VI ZR 344/21) – liefern wichtige Klarstellungen.


1. Grundsatz: Gilt die StVO auf Parkplätzen?

Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) findet grundsätzlich auch auf öffentlich zugänglichen Parkflächen Anwendung. Allerdings bedeutet dies nicht automatisch, dass alle Regeln des fließenden Verkehrs – etwa „rechts vor links“ – dort uneingeschränkt gelten.

Weshalb?
Parkplätze unterscheiden sich von normalen Straßen, weil sie meist nicht allein dem zügigen Durchgangsverkehr dienen. Vielmehr wird dort geparkt, rangiert und in geringer Geschwindigkeit gefahren. Zudem ist die Aufmerksamkeit der Fahrer*innen oft auf die Suche nach freien Stellplätzen gerichtet. Deshalb stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen einzelne Vorschriften der StVO tatsächlich Anwendung finden.


2. BGH (VI ZR 344/21): Beim Parkplatzunfall keine automatische „rechts vor links“-Regelung

Der BGH hat sich am 22. November 2022 (Az. VI ZR 344/21) in einem Fall zu einem Parkplatzunfall auf einem Baumarktparkplatz geäußert. Dort stießen zwei Fahrzeuge in einem Kreuzungsbereich von Fahrgassen zusammen. Ein Sattelzug behinderte zusätzlich die Sicht. Der Kläger war der Ansicht, dass der Beklagte sich an „rechts vor links“ hätte halten müssen.

Klare Aussage des BGH

„Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO (‘rechts vor links’) findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt.“

Damit unterstreicht der BGH, dass ein Parkplatz grundsätzlich anders zu bewerten ist als eine typische Straßenkreuzung. Auf normal markierten, eher schmalen Fahrspuren zwischen den Parkboxen gilt also vorrangig das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme nach § 1 StVO. Nur wenn es sich ausnahmsweise um eine deutlich ausgebaute „Hauptachse“ mit klaren Straßenmerkmalen handelt, kann die Vorfahrtsregel greifen.


3. OLG Frankfurt (Az. 17 U 21/22): Keine eindeutige Haupt- und Nebenstraße

Auch das OLG Frankfurt hat in seinem Urteil vom 22. Juni 2022 (Az. 17 U 21/22) einen ähnlich gelagerten Fall mit einem Parkplatzunfall beurteilt. Zwei Fahrzeuge kollidierten auf dem Parkplatz eines Baumarkts, nachdem der eine Fahrer davon ausging, eine „Hauptstraße“ zu befahren und somit vorfahrtberechtigt zu sein.

Das Gericht entschied jedoch:

  • Auf einem Parkplatz, dessen Fahrspuren keine klaren Bordsteine, Gehwege oder eine eindeutige Markierung als Fahrbahn aufweisen, kann man nicht automatisch von einer über- bzw. untergeordneten Straße sprechen.
  • Insbesondere wenn die Fahrspuren beidseitig von Parkbuchten gesäumt sind und dem Suchverkehr dienen, fehlt der „Straßencharakter“.
  • Folglich gilt auch hier vor allem § 1 StVO: vorsichtige und defensive Fahrweise, gegenseitige Rücksichtnahme und gegebenenfalls Verständigung, wer wann fährt.

Daher musste am Ende bei diesem Parkplatzunfall jeder Unfallbeteiligte für einen Teil des Schadens einstehen (Quotenhaftung).


4. Praktische Konsequenzen für Verkehrsteilnehmer*innen

  1. Rücksichtnahme statt blindes Vertrauen
    Wer auf einem Parkplatz unterwegs ist, kann sich nicht ohne Weiteres auf „rechts vor links“ berufen. Es ist vielmehr besondere Vorsicht geboten, da andere Fahrer*innen eventuell rangieren oder abgelenkt sein könnten.
  2. Bauliche Merkmale genau prüfen
    Nur wenn eine Fahrbahn eindeutig als solche erkennbar ist, mit ausreichender Breite, klarer Markierung und sichtbarer Abtrennung zu den Parkbuchten, kann im Einzelfall eine Vorfahrtsregel Anwendung finden.
  3. Verkehr beobachten und verständigen
    Gerade bei schlechter Sicht (z.B. durch parkende Lkws oder Lieferfahrzeuge) empfiehlt es sich, das eigene Tempo deutlich zu drosseln, den Gegenverkehr zu beobachten und gegebenenfalls ein Handzeichen zur Verständigung zu geben.
  4. Haftung aufteilen
    Kommt es bei einem Parkplatzunfall zum Zusammenstoß, entscheiden die Gerichte häufig eine Quotenhaftung. Wer zu schnell unterwegs war oder sich nicht hinreichend vorsichtig verhalten hat, muss mit einer Mitschuld rechnen.

5. Fazit

Die aktuelle Rechtsprechung des BGH (VI ZR 344/21) und des OLG Frankfurt (17 U 21/22) zum Parkplatzunfall macht deutlich: Auf Parkplätzen ist „rechts vor links“ längst nicht immer das Maß aller Dinge. Entscheidend ist, ob eine Fahrgasse tatsächlich Straßencharakter hat oder vorwiegend dem Such- und Rangierverkehr dient. Oftmals müssen sich die Beteiligten verständigen und besonders vorsichtig verhalten, um Kollisionen zu vermeiden.

Merke: Wer auf einem Parkplatz unterwegs ist, sollte stets bremsbereit sein und darauf achten, dass andere Verkehrsteilnehmer*innen möglicherweise keine Vorfahrtsregeln anwenden (können). Letztlich ist der Grundsatz von § 1 StVO – das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme – hier wichtiger als jede starre Regel.

Linksabbieger-Unfall: Haftung?

Linksabbieger

Unfallschadenregulierung nach einem Linksabbieger-Unfall: Mithaftungsquote bei unklarer Verkehrslage

Ein Linksabbieger-Unfall ist eine der häufigsten Unfallkonstellationen im Straßenverkehr. Besonders in unklaren Verkehrslagen kommt es oft zu Kollisionen, bei denen die Haftungsfrage sorgfältig geprüft werden muss. Ein aktuelles Urteil zeigt, dass auch beim Überholen eines blinkenden Traktors besondere Vorsicht geboten ist.

Linksabbieger: Traktor blinkt – Überholen in unklarer Verkehrslage unzulässig

In dem verhandelten Fall fuhr der Kläger mit einem Motorroller auf einer Landstraße hinter einem Traktorgespann. Dieses blinkte nach links, um in eine schwer erkennbare Hofeinfahrt einzubiegen. Der Kläger setzte zum Überholen an, woraufhin es zur Kollision kam. Besonders strittig war die Frage, ob der Traktor tatsächlich den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte.

Das Gericht stellte klar:

  • Ein nach links blinkender Traktor kann jederzeit kurzfristig abbiegen, selbst wenn er sich nicht nach links eingeordnet hat.
  • Aufgrund der Breite eines landwirtschaftlichen Fahrzeugs ist das Einordnen häufig nicht möglich.
  • Wer dennoch in dieser Situation überholt, handelt in einer unklaren Verkehrslage und trägt eine Mithaftung.

Das Landgericht erkannte eine Mithaftungsquote von 50 %, weil der Traktorfahrer zwar nicht in vollem Umfang seiner doppelten Rückschaupflicht nachgekommen war, der Motorrollerfahrer jedoch fahrlässig in einer unklaren Verkehrslage überholt hatte.

Mithaftungsquote und Schadenersatz bei einem Linksabbieger-Unfall

Bei der Ermittlung der Mithaftungsquote kommt es auf eine genaue Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge an. In diesem Fall war entscheidend:

  • Pflicht zur doppelten Rückschau: Der Traktorfahrer hätte sich vor dem Abbiegen nochmals vergewissern müssen, dass kein Fahrzeug überholt.
  • Überholen in unklarer Verkehrslage: Der Rollerfahrer hätte das blinkende Traktorgespann nicht überholen dürfen.
  • Betriebsgefahr der Fahrzeuge: Ein schweres landwirtschaftliches Fahrzeug birgt eine höhere Betriebsgefahr als ein Motorroller.

Das Gericht entschied sich für eine hälftige Schadensteilung, sodass beide Parteien für jeweils 50 % des Schadens haften.

Unklare Verkehrslage: Ein typisches Problem bei Linksabbieger-Unfällen

Laut § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist das Überholen in einer unklaren Verkehrslage unzulässig. Eine unklare Verkehrslage liegt insbesondere dann vor, wenn:

  • Ein vorausfahrendes Fahrzeug verlangsamt und unklar ist, ob es abbiegt.
  • Das vorausfahrende Fahrzeug blinkt, aber sich noch nicht eindeutig nach links eingeordnet hat.
  • Die Sicht auf eine mögliche Einfahrt oder Abzweigung eingeschränkt ist.

Dieses Urteil zeigt, dass die Gerichte eine hohe Sorgfaltspflicht für Verkehrsteilnehmer anlegen. Wer trotz Blinkens eines Fahrzeugs überholt, muss mit einer Mithaftung rechnen.

Vorgerichtliche Anwaltskosten für Kaskoversicherung nicht erstattungsfähig

Ein weiteres wichtiges Thema des Urteils war die Frage, ob vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten für die Inanspruchnahme der Kaskoversicherung erstattungsfähig sind. Das Gericht entschied:

  • Anwaltskosten für die Regulierung über die Kaskoversicherung sind nur erstattungsfähig, wenn die Beauftragung erforderlich und zweckmäßig war.
  • Allein die Tatsache, dass später ein Quotenvorrecht berücksichtigt werden muss, reicht nicht aus, um die Notwendigkeit einer frühzeitigen anwaltlichen Vertretung zu begründen.

Fazit: Rechtslage bei Linksabbieger-Unfällen beachten

Wer im Straßenverkehr ein abbiegendes oder blinkendes Fahrzeug überholen will, muss sich der unklaren Verkehrslagebewusst sein. Andernfalls droht eine Mithaftung. Auch bei der Inanspruchnahme der Kaskoversicherung sollten Versicherungsnehmer bedenken, dass Anwaltskosten nicht immer erstattungsfähig sind.

Unsere Kanzlei unterstützt Sie kompetent bei der Unfallschadenregulierung, der Durchsetzung Ihrer Ansprüche und der richtigen Bewertung Ihrer Mithaftungsquote.

Praktische Tipps zur Vermeidung von Linksabbieger-Unfällen

  1. Vorausschauend fahren: Insbesondere auf Landstraßen sollten Sie frühzeitig auf Blinker und Fahrverhalten vorausfahrender Fahrzeuge achten.
  2. Sicherheitsabstand einhalten: Halten Sie ausreichend Abstand zu langsam fahrenden Fahrzeugen, um deren Fahrmanöver besser einschätzen zu können.
  3. Überholen nur bei klarer Verkehrslage: Ein Linksabbieger kann jederzeit abbiegen – vermeiden Sie Überholmanöver, wenn Unsicherheit besteht.
  4. Auf landwirtschaftliche Fahrzeuge besonders achten: Traktoren oder landwirtschaftliche Maschinen haben oft eingeschränkte Sicht – rechnen Sie damit, dass diese auch ohne erkennbares Einordnen abbiegen könnten.
  5. Defensive Fahrweise: Selbst wenn ein Fahrzeug blinkt, bedeutet das nicht immer, dass der Fahrer die Situation überblickt. Seien Sie besonders vorsichtig, wenn eine Einfahrt oder eine Abbiegemöglichkeit erkennbar ist.

Mit diesen Maßnahmen lassen sich viele Unfälle vermeiden und rechtliche Auseinandersetzungen minimieren. Im Schadensfall stehen wir Ihnen mit unserer Erfahrung in der Unfallschadenregulierung zur Seite.

Sonderrechte – Schadensersatz nach Verkehrsunfall mit Polizeifahrzeug

Sonderrechte

Urteil vom 08.11.2024: Schadensersatz nach Verkehrsunfall mit Polizeifahrzeug – Sonderrechte

Einleitung
Das Landgericht Köln hat im Fall eines Verkehrsunfalls zwischen einem privaten Fahrzeug und einem Polizeifahrzeug im Einsatz entschieden und am 08.11.2024 ein umfassendes Urteil gefällt. Dieser Fall beleuchtet die rechtlichen Anforderungen an die Nutzung von Sonderrechten und die Sorgfaltspflichten bei Einsatzfahrten. In diesem Artikel fassen wir die Hintergründe, die Entscheidungsgründe und die Bedeutung des Urteils für das Verkehrsrecht zusammen.


Der Unfallhergang: Was war passiert?

Am frühen Morgen des 26.12.2023 kam es im Kreuzungsbereich Komödienstraße/Tunisstraße in Köln zu einem Verkehrsunfall. Ein Polizeifahrzeug, das auf einer Einsatzfahrt unterwegs war, kollidierte mit einem Fahrzeug des Klägers.

Die wichtigsten Fakten:

  • Ampelschaltung: Das Polizeifahrzeug fuhr bei Rotlicht in die Kreuzung ein, während das Fahrzeug des Klägers bei Grünlicht einfuhr.
  • Sonderrechte: Laut Angaben des beklagten Landes waren Blaulicht und Martinshorn aktiviert. Der Kläger und sein Zeuge bestritten dies jedoch.
  • Schaden: Der entstandene Gesamtschaden betrug 3.913,55 Euro. Das beklagte Land regulierte zunächst 60 % des Schadens, der Kläger forderte jedoch die vollen 100 %.

Die Argumente der Parteien

Der Kläger:
Der Kläger machte geltend, dass:

  1. Das Polizeifahrzeug kein Blaulicht oder Martinshorn rechtzeitig aktiviert hatte.
  2. Das Einsatzfahrzeug mit einer unangepassten Geschwindigkeit in die Kreuzung einfuhr.
  3. Die Fahrerin des Polizeifahrzeugs nicht ausreichend sicherstellte, dass andere Verkehrsteilnehmer das Einsatzfahrzeug wahrnehmen konnten.

Das beklagte Land:
Das beklagte Land trug vor, dass:

  1. Die Sonderrechte ordnungsgemäß genutzt wurden.
  2. Die Fahrerin vor der Kreuzung abgebremst und sich vergewissert habe, dass kein Verkehrsteilnehmer gefährdet werde.
  3. Der Unfall trotz aller Vorsichtsmaßnahmen unvermeidbar gewesen sei.

Beweisaufnahme und Sachverständigengutachten

Das Gericht erhob Beweis durch Zeugenaussagen und ein Sachverständigengutachten:

  • Gutachterliche Feststellungen:
    Der Sachverständige stellte fest, dass das Polizeifahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 25-31 km/h unterwegs war. Diese Kollisionsgeschwindigkeit widerlegte die Aussage der Fahrerin, dass sie sich mit Schrittgeschwindigkeit in die Kreuzung „hineintastete“.
  • Zeugenaussagen:
    Der Zeuge des klägerischen Fahrzeugs erklärte, weder Blaulicht noch Martinshorn vor der Kollision wahrgenommen zu haben. Die Aussagen der Polizeizeugen über die Nutzung der Sonderrechte waren widersprüchlich.

Das Urteil: Entscheidung zugunsten des Klägers

Das Landgericht Köln verurteilte das beklagte Land zur Zahlung des vollen Schadensersatzes in Höhe von 756,48 Euro. Die Begründung:

  1. Pflichtverletzung der Polizeifahrerin:
    Das Polizeifahrzeug hätte sich bei der unübersichtlichen Kreuzung mit angepasster Geschwindigkeit vortasten müssen. Auch mit Sonderrechten besteht eine hohe Sorgfaltspflicht.
  2. Fehlender Nachweis der Sonderrechte:
    Das Gericht sah es als nicht bewiesen an, dass Blaulicht und Martinshorn rechtzeitig eingeschaltet waren. Die widersprüchlichen Aussagen der Polizeibeamt:innen reichten dafür nicht aus.
  3. Unvermeidbarkeit der Kollision:
    Der Zeuge des klägerischen Fahrzeugs konnte das Polizeifahrzeug aufgrund der Bebauung und der hohen Geschwindigkeit nicht rechtzeitig wahrnehmen.
  4. Haftungsquote:
    Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs trat zurück, da die Pflichtverstöße des Polizeifahrzeugs überwogen.

Bedeutung des Urteils für das Verkehrsrecht

Dieses Urteil setzt klare Maßstäbe für die Nutzung von Sonderrechten:

  • Blaulicht und Martinshorn müssen rechtzeitig und dauerhaft aktiviert sein.
  • Fahrer:innen von Einsatzfahrzeugen tragen eine besondere Verantwortung, auch bei der Nutzung von Sonderrechten. Sie müssen sicherstellen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Signale wahrnehmen können.
  • Pflichtverstöße können dazu führen, dass die volle Haftung auf das Einsatzfahrzeug übergeht.

Fazit:
Dieses Urteil des Landgerichts Köln unterstreicht die Bedeutung von Sorgfaltspflichten bei Einsatzfahrten. Verkehrsteilnehmer, die durch Pflichtverstöße geschädigt werden, können ihre Ansprüche mit einer fundierten Rechtsvertretung durchsetzen. Wenn Sie ähnliche Fälle haben oder Fragen zu Verkehrsrecht, Schadensersatz oder Haftungsquoten, stehen wir Ihnen als kompetente Kanzlei gerne zur Seite. Kontaktieren Sie uns für eine unverbindliche Beratung!

Haftungsquote bei Unfall: Rechtsabbieger und verbotswidrig querender Radfahrer

Rechtsabbieger

Haftungsquote bei Kollision zwischen Pkw als Rechtsabbieger und querendem, verbotswidrig auf Gehweg fahrendem Radfahrer

In einem bemerkenswerten Urteil hat das Oberlandesgericht die Haftungsverteilung bei einem Unfall zwischen einem Rechtsabbieger und einem querenden Fahrradfahrer, der verbotswidrig einen Gehweg befahren hatte, festgelegt. Das Urteil verdeutlicht die maßgeblichen rechtlichen Grundsätze und die Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile in solchen Situationen.

Ausgangslage

Ein 18-jähriger Fahrradfahrer nutzte mit seinem Fahrrad einen Gehweg, der ausschließlich für Fußgänger vorgesehen war (Zeichen 239 StVO). Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 27,5 km/h überquerte er die Straße über einen abgesenkten Bordstein, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen. Gleichzeitig bog ein Pkw-Fahrer nach rechts in dieselbe Straße ab und kollidierte mit dem Fahrradfahrer. Der Fahrradfahrer erlitt schwerste Verletzungen.

Gerichtliche Entscheidung zur Haftungsverteilung

Das Gericht stellte fest, dass der Fahrradfahrer ein erhebliches unfallursächliches Verschulden von 75 % trägt. Dennoch wurde dem rechtsabbiegenden Pkw-Fahrer eine Teilschuld von 25 % zugewiesen, da er gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hatte.

Verschulden des Fahrradfahrers

  • Verbotswidriges Befahren des Gehwegs: Der Gehweg war durch das Verkehrszeichen 239 ausschließlich für Fußgänger vorgesehen. Der Fahrradfahrer hätte die Fahrbahn nutzen müssen und handelte damit grob fahrlässig (Verstoß gegen § 2 Abs. 1, Abs. 5 StVO).
  • Missachtung der Wartepflicht: Der Fahrradfahrer fuhr ohne anzuhalten über den abgesenkten Bordstein auf die Fahrbahn und verletzte damit seine Wartepflicht nach § 10 StVO.

Verschulden des Pkw-Fahrers als Rechtsabbieger

  • Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 2 StVO): Obwohl der Fahrradfahrer verbotswidrig handelte, hätte der Pkw-Fahrer als Rechtsabbieger bei größerer Sorgfalt den Fahrradfahrer rechtzeitig erkennen und den Unfall vermeiden können. Das Gericht begründete dies mit der technischen Machbarkeit eines rechtzeitigen Schulterblicks, der es dem Pkw-Fahrer ermöglicht hätte, den Gehweg und den querenden Verkehr einzusehen.

Kein Verstoß gegen besondere Abbiege- und Vorfahrtsregeln

  • Der Fahrradfahrer konnte sich aufgrund seines verbotswidrigen Verhaltens nicht auf die besonderen Schutzregelungen der § 8 Abs. 1 oder § 9 Abs. 3 StVO berufen. Diese Vorschriften schützen nur berechtigte Verkehrsteilnehmer.
  • Auch die doppelte Rückschaupflicht (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO) wurde vom Pkw-Fahrer als Rechtsabbieger eingehalten.

Fazit und Relevanz

Das Urteil zeigt, dass auch bei grob fahrlässigem Verhalten eines Geschädigten eine anteilige Haftung des Pkw-Fahrers bestehen kann. Rechtsabbieger müssen stets damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig handeln könnten, insbesondere in der Nähe von Schulen, Wohngebieten oder anderen sensiblen Bereichen.

Für Radfahrer verdeutlicht das Urteil die schwerwiegenden Konsequenzen von Regelverstoßen: Neben einer erheblichen Mithaftung kann es auch zu einer Reduzierung von Schmerzensgeldansprüchen kommen.

Unsere Kanzlei unterstützt Sie bei der Klärung von Haftungsfragen und der Durchsetzung Ihrer Ansprüche. Kontaktieren Sie uns, wenn Sie rechtlichen Beistand benötigen.

Bei Prof. Dr. Streich & Partner stehen wir Ihnen als Experten im Verkehrsrecht in Berlin und Brandenburg zur Verfügung. Kontaktieren Sie uns, um Ihre Rechte durchzusetzen und eine fundierte Beratung zu erhalten.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Thomas Brunow – Verkehrsrechtsexperte in Berlin MitteThomas Brunow Rechtsanwalt für Verkehrsrecht Schadenregulierung

Rechtsanwalt Thomas Brunow von der Kanzlei Prof. Dr. Streich & Partner ist ein erfahrener Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin und Brandenburg. Als Spezialist auf diesem Gebiet vertritt er seine Mandanten ausschließlich in verkehrsrechtlichen Angelegenheiten. Als Vertrauensanwalt des Volkswagen- und Audi-Händlerverbandes genießt er großes Vertrauen in der Automobilbranche. Zudem ist er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht.

Schwerpunkte von Rechtsanwalt Thomas Brunow:
– Schadenregulierung nach Verkehrsunfällen: Durchsetzung von Ansprüchen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.
– Verteidigung in Verkehrsstrafsachen: Spezialisierung auf Fälle wie Trunkenheitsfahrten, Fahrerflucht, Nötigung und Körperverletzung im Straßenverkehr.
– Verteidigung in Bußgeldverfahren Expertise bei Geschwindigkeitsverstößen, Rotlichtvergehen und Fahrtenbuchauflagen.

Rechtsanwalt Thomas Brunow steht seinen Mandanten mit umfassender Fachkenntnis zur Seite und sorgt für eine effektive Vertretung im Verkehrsrecht.

Glättewarnung – Unfall bei Schnee und Glätte – Haftung

Glättewarnung

Glättewarnung und Wintereinbruch – Unfall ohne Winterreifen: Was Sie wissen sollten
Ihre Rechte und Pflichten bei Glätte, Schnee und falscher Bereifung

Der Winter kann Autofahrer plötzlich und unerwartet treffen. Während mancherorts die Sonne scheint, sorgen Glatteis, Schnee und Matsch anderswo für gefährliche Straßenverhältnisse. Wer in solchen Situationen mit Sommerreifen unterwegs ist, riskiert nicht nur Bußgelder, sondern auch den Verlust seines Versicherungsschutzes. Was Autofahrer in puncto Winterreifenpflicht, Glättewarnung, Haftung bei Unfällen und Versicherungsschutz beachten müssen, erfahren Sie hier.


Winterreifenpflicht in Deutschland: Situativ statt starr

In Deutschland gilt keine starre Winterreifenpflicht. Die Straßenverkehrsordnung (§ 2 Abs. 3a StVO) schreibt eine situative Regelung vor: Fahrzeuge dürfen bei Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch, Eisglätte oder Reifglätte nur mit wintertauglichen Reifen gefahren werden.

Als wintertauglich gelten:

  • Winterreifen mit dem Alpine-Symbol (Schneeflocke im Bergpiktogramm).
  • Ganzjahresreifen, sofern sie das Alpine-Symbol tragen.
  • Ältere M+S-Reifen (Matsch und Schnee), die vor dem 1. Januar 2018 produziert wurden. Diese sind noch bis 30. September 2024 zugelassen.

Glättewarnung beachten: Was ist der Witterung angemessen?

Die situative Winterreifenpflicht bedeutet, dass die Bereifung „der Witterung angemessen“ sein muss. Eine Glättewarnung sollte Autofahrer daher immer ernst nehmen, da sie ein klarer Hinweis auf winterliche Straßenverhältnisse ist. Solche Warnungen machen deutlich, dass Fahrzeuge nur mit Reifen unterwegs sein sollten, die:

  • Bessere Fahreigenschaften bei Schnee und Eis bieten.
  • Eine Profiltiefe von mindestens 1,6 mm haben (empfohlen: 4 mm).

Auch wenn die Straße bei Glättewarnung trocken erscheint, sind Sommerreifen häufig ungeeignet. Die Verwendung falscher Reifen erhöht nicht nur das Unfallrisiko, sondern kann auch Versicherungsprobleme mit sich bringen.


Ganzjahresreifen: Eine Alternative?

Ganzjahresreifen sind ein Kompromiss zwischen Sommer- und Winterreifen und bieten Vorteile für Gelegenheitsfahrer oder Städter. Sie eignen sich besonders für Regionen mit milden Wintern. Allerdings:

  • Neu produzierte Ganzjahresreifen müssen das Alpine-Symbol tragen.
  • Ältere M+S-Reifen dürfen nur noch bis Ende September 2024 verwendet werden.

Fehlen die vorgeschriebenen Kennzeichnungen, riskieren Sie Bußgelder und möglicherweise den Verlust Ihres Versicherungsschutzes. Eine Glättewarnung kann zudem zum Maßstab dafür werden, ob der Einsatz von Ganzjahresreifen noch angemessen ist.


Bußgelder bei falscher Bereifung

Wer bei winterlichen Straßenverhältnissen ohne geeignete Reifen unterwegs ist, muss mit empfindlichen Strafen rechnen:

  • 60 € Bußgeld und 1 Punkt in Flensburg für falsche Bereifung.
  • 80 € bei Verkehrsbehinderung.
  • 100 € bei Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer.
  • 120 € bei einem Unfall.

Achtung: Fahrzeughalter können ebenfalls belangt werden, wenn sie die Inbetriebnahme eines Kfz mit unzulässiger Bereifung zulassen – mit 75 € Bußgeld und 1 Punkt.


Grobe Fahrlässigkeit: Wann zahlt die Versicherung nicht?

Wenn ein Unfall bei Schnee oder Glätte passiert, prüft die Versicherung, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt. Laut Bundesgerichtshof handelt grob fahrlässig, wer „die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt“. Das ist beispielsweise der Fall, wenn:

  • Ein Fahrer bei klar erkennbaren winterlichen Straßenverhältnissen mit Sommerreifen unterwegs ist.
  • Eine Glättewarnung ignoriert wurde, die auf Gefahrenstellen hinweist.

Die Versicherung darf ihre Leistung jedoch nur kürzen, wenn:

  1. Durchgehend winterliche Straßenverhältnisse herrschten.
  2. Der Unfall mit geeigneten Winterreifen hätte vermieden werden können.

Fallbeispiel: Unfall bei Glätte mit Sommerreifen – Ein Urteil mit Einschränkungen

Ein Autofahrer rutschte im Oktober auf der Mannheimer Jungbuschbrücke auf Glatteis in den Gegenverkehr. Obwohl er mit Sommerreifen unterwegs war, entschied das Amtsgericht Mannheim, dass die Regressforderung der Versicherung nicht berechtigt war (Az.: 3 C 308/14).

Die Begründung des Gerichts:

  • Es herrschten keine durchgehend winterlichen Verhältnisse, da umliegende Straßen eisfrei waren.
  • Die Versicherung konnte nicht nachweisen, dass der Unfall mit Winterreifen hätte vermieden werden können.
  • Auch die Wetterlage spielte eine entscheidende Rolle: Die Glätte trat plötzlich und lokal auf, und es lag keine aktive Glättewarnung für das Gebiet vor.

Kein Freibrief für Sommerreifen im Winter

Trotz dieses Urteils ist das Fahren mit Sommerreifen bei winterlichen Straßenverhältnissen keinesfalls risikolos. Zwar gibt es in Deutschland keine generelle Winterreifenpflicht für einen festen Zeitraum, doch die Straßenverkehrsordnung verlangt, dass Fahrzeuge bei Glatteis, Schnee und ähnlichen Verhältnissen nur mit „geeigneter Bereifung“ unterwegs sein dürfen (§ 2 Abs. 3a StVO).

Wer diese Vorschrift missachtet, riskiert nicht nur ein Bußgeld und einen Punkt in Flensburg, sondern läuft Gefahr, bei einem Unfall von der Versicherung in Regress genommen zu werden.

So bewertete das Oberlandesgericht Frankfurt (Az.: 3 U 182/02) das Fahren mit Sommerreifen im Winter als grob fahrlässig. Der betroffene Versicherte musste den Schaden an seinem Fahrzeug vollständig selbst tragen, da die Versicherung berechtigt war, ihre Leistungen zu verweigern.

Wann liegt grobe Fahrlässigkeit vor?

Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonderem Maße verletzt wird – etwa durch offensichtliche Gefahren wie das Fahren mit Sommerreifen auf verschneiten oder vereisten Straßen. In solchen Fällen kann die Versicherung ihre Leistungen anteilig oder sogar vollständig kürzen. Insbesondere dann, wenn eine allgemeine Glättewarnung erfolgt.

Weitere Beispiele für grobe Fahrlässigkeit:

  • Überfahren eines Stoppschilds.
  • Nicht an die Witterung angepasste Geschwindigkeit.
  • Ablenkung durch das Bedienen von Radio oder Navigationsgerät.

Wie Sie Ärger mit der Versicherung vermeiden

  • Reifen rechtzeitig wechseln: Spätestens im Oktober sollte auf Winterreifen gewechselt werden.
  • Reifen prüfen: Achten Sie auf eine Profiltiefe von mindestens 4 mm und das Alpine-Symbol.
  • Versicherungsvertrag anpassen: Viele Kfz-Tarife bieten mittlerweile den Verzicht auf die Einrede der groben Fahrlässigkeit an – ein zusätzlicher Schutz, falls doch einmal ein Fehler passiert.

Auf der sicheren Seite sind Autofahrer, die sich frühzeitig an eine Glättewarnung halten und ihre Reifen entsprechend anpassen. So lassen sich nicht nur Bußgelder vermeiden, sondern auch Streitigkeiten mit der Versicherung im Falle eines Unfalls.

Unser Tipp: Kontaktieren Sie uns, wenn Sie rechtliche Unterstützung bei Streitigkeiten mit Ihrer Versicherung benötigen. Wir setzen uns für Ihre Rechte ein und klären, ob eine Leistungskürzung berechtigt ist.


Winterreifenpflicht in Europa: Uneinheitliche Regelungen

In Europa gibt es keine einheitliche Regelung zur Winterreifenpflicht. In manchen Ländern gelten starre Zeiträume, in anderen nur situative Vorschriften:

  • Österreich: Winterreifenpflicht vom 01.11. bis 15.04.
  • Tschechien: Vom 01.11. bis 31.03.
  • Schweden: Vom 01.12. bis 31.03., zusätzlich Frostschutzmittel und Schneeschaufel im Auto verpflichtend.
  • Belgien, Frankreich, Spanien: Keine generelle Winterreifenpflicht, nur situativ vorgeschrieben.

Die Bußgelder variieren ebenfalls stark: Während in Österreich Strafen von bis zu 5.000 € drohen, belaufen sich diese in Deutschland auf maximal 120 €.


Fazit: Sicher unterwegs trotz Glättewarnung

  • Wechseln Sie rechtzeitig auf Winterreifen oder Ganzjahresreifen mit Alpine-Symbol.
  • Achten Sie auf lokale Gefahrenstellen wie Brücken oder Waldstraßen.
  • Ignorieren Sie niemals eine Glättewarnung – sie schützt Sie und andere Verkehrsteilnehmer.
  • Prüfen Sie Ihren Versicherungsvertrag auf Klauseln zur groben Fahrlässigkeit.

Kontaktieren Sie uns, wenn Sie Ärger mit der Versicherung haben oder Fragen zur Winterreifenpflicht und Haftung bei Unfällen nach Schnee oder Glättewarnung haben. Unsere Experten für Verkehrsrecht stehen Ihnen kompetent zur Seite!

Bei Prof. Dr. Streich & Partner stehen wir Ihnen als Experten im Verkehrsrecht in Berlin und Brandenburg zur Verfügung. Kontaktieren Sie uns, um Ihre Rechte durchzusetzen und eine fundierte Beratung zu erhalten.

Ihr Ansprechpartner: Rechtsanwalt Thomas Brunow – Verkehrsrechtsexperte in Berlin MitteThomas Brunow Rechtsanwalt für Verkehrsrecht Schadenregulierung

Rechtsanwalt Thomas Brunow von der Kanzlei Prof. Dr. Streich & Partner ist ein erfahrener Fachanwalt für Verkehrsrecht in Berlin und Brandenburg. Als Spezialist auf diesem Gebiet vertritt er seine Mandanten ausschließlich in verkehrsrechtlichen Angelegenheiten. Als Vertrauensanwalt des Volkswagen- und Audi-Händlerverbandes genießt er großes Vertrauen in der Automobilbranche. Zudem ist er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht.

Schwerpunkte von Rechtsanwalt Thomas Brunow:
– Schadenregulierung nach Verkehrsunfällen: Durchsetzung von Ansprüchen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.
– Verteidigung in Verkehrsstrafsachen: Spezialisierung auf Fälle wie Trunkenheitsfahrten, Fahrerflucht, Nötigung und Körperverletzung im Straßenverkehr.
– Verteidigung in Bußgeldverfahren Expertise bei Geschwindigkeitsverstößen, Rotlichtvergehen und Fahrtenbuchauflagen.

Rechtsanwalt Thomas Brunow steht seinen Mandanten mit umfassender Fachkenntnis zur Seite und sorgt für eine effektive Vertretung im Verkehrsrecht.

Weiternutzungsfall beim Autounfall: Restwert ‚null‘, Gutachten und Versicherungsangebote einfach erklärt

Fahrerflucht

Weiternutzungsfall: Restwert „null“ und Überangebot vom Versicherer – Was Geschädigte und Gutachter nach einem Autounfall wissen müssen – Unfall Berlin

Ein Verkehrsunfall ist oft der Auftakt zu einem rechtlichen Marathon. Ein aktueller Fall wirft dabei eine Vielzahl interessanter Fragen auf: Was passiert, wenn ein Schadengutachten den Restwert eines Fahrzeugs mit „null“ beziffert und der Versicherer dennoch ein Angebot von 2.100 Euro aus einer weit entfernten Stadt vorlegt? Ein Blick in die Details gibt Aufschluss.

Der Ausgangspunkt

Eine Leserin schildert: Nach einem Autounfall stellt der Gutachter fest, dass die Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert (WBW) deutlich übersteigen. Er inseriert das Fahrzeug in einer Restwertbörse mit regionaler Begrenzung – das Ergebnis: kein Gebot. Folglich weist das Gutachten einen Restwert von null Euro aus. Der Versicherer jedoch präsentiert ein Angebot aus einer über 300 Kilometer entfernten Stadt – 2.100 Euro.

Der Geschädigte entscheidet sich nach dem Autounfall, sein Fahrzeug verkehrssicher zu machen und weiter zu nutzen. Nach sechs Monaten fordert er vorsichtshalber die 2.100 Euro vom Versicherer ein, doch dieser lehnt ab. Was nun?

1. Die Rechtslage bei Weiternutzung

Die Entscheidung des Geschädigten, das Fahrzeug weiter zu nutzen, bringt rechtlich eine Besonderheit mit sich. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) gibt es in solchen Fällen keinen „Überbietungswettlauf“. Maßgeblich ist der im Gutachten angegebene Restwert (BGH, VI ZR 120/06; VI ZR 217/06; VI ZR 318/08).

Anders verhält es sich bei der Abschaffung des Fahrzeugs. Hier darf der Geschädigte das Gutachten als Grundlage nehmen, der Versicherer kann jedoch ein überhöhtes Angebot geltend machen, solange das Fahrzeug noch nicht verkauft wurde (§ 254 Abs. 2 BGB). Im Weiternutzungsfall entfällt diese Verpflichtung, denn der Geschädigte repariert das Fahrzeug selbst und nutzt es weiter. Ein späteres Zurückgreifen auf Angebote des Versicherers ist nicht möglich, da diese meist zeitlich begrenzt sind.

2. „Sechs Monate“ – Mythos oder Realität?

Wie lange muss der Geschädigte sein Fahrzeug nach einem Autounfall weiter nutzen, um rechtlich abgesichert zu sein? Der BGH hat hier keine abschließende Entscheidung getroffen. Doch ein Blick in die bisherige Rechtsprechung zeigt, dass sechs Monate als ausreichend gelten (BGH, VI ZR 192/05). Die Dauer soll dokumentieren, dass der Geschädigte ein ernsthaftes Interesse an der Weiternutzung hat.

Praktisch betrachtet können die sechs Monate nach einem Autounfall  sinnvoll sein, da sie oftmals schneller vergehen, als der Versicherer oder die Gerichte entscheiden. Geschädigte, die ihre Weiternutzungsabsicht erklären, können jedoch die volle Entschädigung sofort verlangen, sofern kein Gegenbeweis durch den Versicherer erbracht wird (BGH, VI ZB 22/08).

3. Ist das „Null Euro“-Gutachten tragfähig?

Ein „null“-Restwert im Gutachten ist nicht per se problematisch – vorausgesetzt, der Gutachter hat nachvollziehbar gearbeitet. Die Rechtsprechung verlangt, dass der Geschädigte erkennen kann, wie der Gutachter zu diesem Ergebnis gekommen ist. Idealerweise benennt der Gutachter drei Angebote aus dem regionalen Markt und beschreibt seine Suche.

Im geschilderten Fall basiert das Gutachten lediglich auf einem Ergebnisblatt der Restwertbörse mit regionaler Begrenzung und einer kurzen Einstelldauer. Zwar ist das knapp, doch es genügt den Anforderungen, da der Gutachter das Lokalitätsgebot des BGH beachtet hat. Geschädigte können darauf vertrauen, dass dieses Vorgehen tragfähig ist.

4. Das Angebot des Versicherers: Rechtens oder nicht?

Der Versicherer argumentiert, dass sein Angebot über 2.100 Euro beachtet werden müsse. Dieses stammt jedoch aus einer Stadt in der Nähe der Grenze zu Polen, was in der Praxis oft der Fall ist, wenn Restwertbörsen ohne regionale Begrenzung genutzt werden. Der BGH lehnt solche Angebote ab, wenn sie für den Geschädigten unzumutbar sind (BGH, VI ZR 358/18).

Entscheidend ist, dass der Geschädigte das Fahrzeug nach einem Autounfall bei einem ortsnahen Händler in Zahlung geben kann – ein Punkt, den überregionale Restwertanbieter nicht erfüllen. Das OLG München bestätigt dies und sortiert Angebote von Restwertspezialisten aus, selbst wenn sie „örtlich“ erscheinen (OLG München, 10 U 516/22).

Fazit: Für Geschädigte und Gutachter

Dieser Fall zeigt, wie wichtig eine klare Dokumentation und fundierte Entscheidungen sind. Geschädigte sollten sich nicht von „Null Euro“-Gutachten oder überregionalen Angeboten verunsichern lassen. Kfz-Gutachter wiederum sollten ihre Recherche nachvollziehbar gestalten, um das Vertrauen der Geschädigten und der Gerichte zu sichern.

Letztlich bleibt der Grundsatz: Geschädigte nach einem Autounfall dürfen in eigener Regie über ihr Fahrzeug entscheiden – und das sollten sie selbstbewusst tun.

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen hierzu erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen