OLG München: Grenzen des Anscheinsbeweises beim Auffahrunfall – Wann „Wer auffährt, hat Schuld“ nicht gilt
Der Auffahrunfall gehört zu den Klassikern im Verkehrsrecht. Fast jeder kennt den Satz: „Wer auffährt, hat Schuld.“
Doch diese Faustregel hat Grenzen. Das Oberlandesgericht München (Urteil vom 09.02.2022 – 10 U 1962/21, NJW-RR 2022, 893) zeigt, dass der Anscheinsbeweis nicht automatisch greift – vor allem dann nicht, wenn vor dem Unfall ein Spurwechsel feststeht, aber die genaue Ursache unklar bleibt.
Was bedeutet Anscheinsbeweis im Verkehrsrecht?
Der Anscheinsbeweis erlaubt es dem Gericht, aus einem typischen Unfallablauf auf ein typisches Fehlverhalten zu schließen – ohne dass jede Einzelheit bewiesen werden muss.
Beim Auffahrunfall lautet der Erfahrungssatz oft:
-
Der Auffahrende hat den Sicherheitsabstand (§ 4 Abs. 1 StVO) nicht eingehalten,
-
war unaufmerksam (§ 1 StVO) oder
-
fuhr zu schnell (§ 3 Abs. 1 StVO).
Aber: Dieser Schluss ist nur erlaubt, wenn das gesamte Unfallgeschehen typisch ist. Kommen besondere Umstände ins Spiel, kann der Anscheinsbeweis entfallen.
Der entscheidende Satz aus dem OLG-Urteil
Das OLG München formuliert in Rn. 18 unmissverständlich:
„Demnach wird einem Auffahrunfall die Typizität regelmäßig zu versagen sein, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahren ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 V StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch die Möglichkeit, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist.“
Mit anderen Worten:
Selbst wenn der Spurwechsel bewiesen ist, führt das nicht automatisch zu einem Schuldvorwurf gegen den Auffahrenden, wenn offen bleibt, ob der Spurwechsel verkehrswidrig war oder der Auffahrende einfach zu spät reagierte.
Der Fall: Auffahrunfall Motorradfahrer gegen Pkw auf der A9
Ein Motorradfahrer fuhr auf der linken Spur der A9 auf das Heck eines Pkw auf. Strittig war, ob der Pkw kurz vor dem Unfall von der mittleren auf die linke Spur gewechselt war.
Das Landgericht hatte zunächst eine 50:50-Haftungsverteilung angenommen.
Das OLG München sah das anders: Der Pkw-Fahrer konnte glaubhaft darlegen, dass er bereits längere Zeit spurgleich vorausfuhr. Der Motorradfahrer konnte den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern – weder durch Zeugen noch durch andere Beweise.
Ergebnis: Alleinhaftung des Motorradfahrers.
Bedeutung für die Praxis
Das Urteil macht deutlich:
-
Für Auffahrende: Wer den Anscheinsbeweis kippen will, braucht klare und belastbare Beweise – bloße Vermutungen reichen nicht.
-
Für Vorausfahrende: Gelingt der Nachweis, dass Sie bereits länger spurgleich fuhren, kann Ihre eigene Haftung vollständig entfallen.
-
Für beide Seiten: Widersprüchliche oder unklare Zeugenaussagen helfen nicht – entscheidend ist eine stimmige, belegbare Darstellung des Unfallhergangs.
Praxistipps vom Verkehrsrechtsexperten
📌 Dashcams einsetzen – sie liefern im Zweifel den entscheidenden Beweis.
📌 Zeugen frühzeitig sichern – Gedächtnislücken entstehen schneller als man denkt.
📌 Fotos, Skizzen und Unfallberichte sorgfältig sammeln.
Gerade bei Autobahnunfällen mit Spurwechseln entscheiden oft Sekunden – und nur eine saubere Beweislage kann den Ausschlag geben.
Fazit: Der Satz „Wer auffährt, hat immer Schuld“ stimmt so nicht. Das OLG München zeigt: Wenn feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel stattgefunden hat, aber unklar bleibt, ob dieser oder eine verspätete Reaktion die Ursache war, darf der Anscheinsbeweis nicht angewendet werden. Wer seine Position mit klaren Beweismitteln stützt, hat vor Gericht die besseren Chancen.
Ihr Ansprechpartner für Verkehrsrecht
Sie sind in einen ähnlichen Fall verwickelt oder möchten wissen, wie Ihre rechtlichen Chancen stehen? Unsere Kanzlei berät und vertritt Mandanten deutschlandweit in allen Fragen des Verkehrsrechts – fundiert, erfahren und lösungsorientiert.
📞 Kanzlei Prof. Dr. Streich & Partner
📍 Eichendorffstraße 14 – 10115 Berlin
📧 verkehrsrecht@streich-partner.de
🌐 www.streich-partner.de
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.